Das Versprechen der Gymnasien
Martin Zimmermann
Bio:
*1960
Romanist, Germanist
Seit 1988 Kantonsschullehrer
Seit 2003 Schulleiter (KZO, KUE)
Man nehme den status quo, füge eine Portion Informatik (und allenfalls weitere Fächer) hinzu, mische etwas Resilienz-Training (und allerlei mehr überfachliche Kompetenzen) dazu, rühre das Ganze spiralförmig um, bis die Schulzeit um ist. Dann bekommt man vertieft gesellschaftsreife Personen, denen alle Hochschulen offenstehen. So lassen sich gewisse Konzepte aus den Mittelschul-Reform-Projekten der letzten Jahre lesen.
Das Rezept mag hier als Karikatur ausformuliert sein, aber der Verdacht bleibt. Der Glaube an die Planbarkeit von Unterricht und Ausbildung scheint in der Bildungsadministration, der Bildungsökonomie und in der Politik gross zu sein. Deshalb schreibt man ausführliche Lehrpläne, umfassende Stoffpläne und denkt über die Erweiterung des Fächerkanons nach. Man glaubt, damit das Versprechen der Gymnasien einlösen zu können, nämlich hochschul- und gesellschaftsreife Maturandinnen und Maturanden hervorzubringen.
Es gibt aber mindestens drei Gründe, die gegen eine derartige Reform-Vorstellung sprechen.
A.
Die Aufgaben des Gymnasiums entsprechen nicht den zur Verfügung stehenden Ressourcen. Zu viel Unterrichtszeit haben die Gymnasien (zumindest im Kanton Zürich) in den letzten 30 Jahren verloren (Verkürzung um mehr als ein halbes Jahr Unterricht, Einführung neuer Fächer, Zusatzaufgaben im Bereich Prävention etc.). Unter den heutigen Bedingungen ist es nicht möglich, alle Versprechen einzulösen: breite Allgemeinbildung, Vorbereitung für alle Studienrichtungen aller (Fach-)Hochschulen und für anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft. Ein Projekt wie das der basalen fachlichen Studierkompetenzen ist lediglich eine Hilfskonstruktion, es weist auf ein Defizit hin, das mit einem «minimalen» Lehrplan, nicht aber mit zusätzlicher Zeit behoben werden soll.
B.
An einem Gymnasium lernen junge Menschen, die in ihrer Entwicklung stehen und die Unsicherheiten des Jugendalters an ihrem Leib erfahren. Zudem sehen sie sich mit dem Klimawandel konfrontiert, der die Grundlagen des Lebensraums stark verändert. Dass die dauernden Reize, die über elektronische Medien auf sie einprasseln, kaum zur Stabilisierung beitragen, wissen wir. Auch diese jugendpsychologischen Bedingungen muss eine gute Schule einbeziehen.
C.
Michael Hampe (Philosoph ETH Zürich) wies bei verschiedenen Gelegenheiten zudem auf die letztlich politische Aufgabe des Gymnasiums hin. Wenn es so ist, führt Hampe aus, dass sich unsere Gesellschaft in mindestens zwei grundsätzliche Bedrohungen gebracht hat (Gefährdung unserer ökologischen Grundlagen durch die Weise des Produzierens und Konsumierens und Gefährdung der politischen Auseinandersetzung durch Folgen der Digitalisierung), muss die Schule und gerade auch das Gymnasium Menschen hervorbringen, die nicht auf eine Karriere im bestehenden System vorbereitet werden, sondern Menschen, die etwas verändern wollen und verändern können.
Das Gymnasium ist unter den aktuellen Bedingungen nicht einfach reformierbar, es braucht ein neues Konzept – ja, vielleicht eine grundlegend neue Vision. Kernideen wie die folgenden könnten Leitlinien für eine andere Schule sein, die andere Versprechen einlösen wird als diejenigen, die das Gymnasium vor 30 oder 50 Jahren gegeben hatte.
- Die Idee, dass an der Schule Wissen vermittelt wird, hat nicht mehr die gleiche Evidenz wie zur Zeit vor dem Internet. Die Konsequenzen daraus müssen wir unbedingt und endlich ziehen.
- Die Schülerinnen und Schüler müssen Zeit bekommen, fachliche Probleme zu vertiefen und sich mit der Denkweise verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen vertraut zu machen.
- Es geht darum, die Schülerinnen und Schüler zu aktivieren, indem sie einerseits stärker in die Erarbeitung von Wissen einbezogen werden (z.B. durch die Idee des flipped classroom) und indem sie anderseits Raum haben, Fertigkeiten zu üben und anzuwenden. Die Aktivierung erfolgt nicht über «strenge Noten» und ein umfassendes Prüfungssystem.
- Die Leistungsbeurteilung darf nicht mehr das Zentrum des Unterrichts sein.
- Das Formulieren von Fragen, von Argumentationen, von Sachlagen wird intensiv geübt, und zwar in allen Fächern. Fast alle Wissenschaften sind auf Sprache angewiesen, überall braucht es Sprache, um fachliche Lösungen zu präsentieren.
- Selbstwirksamkeitserfahrungen sind zentral für die Ausbildung der Jugendlichen. Das Schulprogramm ist auf Gelegenheiten auszurichten, die eine gute Einschätzung der eigenen Möglichkeiten ausbilden.
Das geht auf Hampe zurück, der sagt, wir brauchen nicht Abgänger:innen, die im aktuellen System gut funktionieren, sondern Menschen, die das aktuelle System, das die Welt an den Rand der Katastrophe bringt, verändern. - Die Schule muss die Erfahrung ermöglichen, dass verschiedene Wege zu verschiedenen akzeptablen Zielen führen können.
- Möglichkeiten zur Zusammenarbeit (längere Gruppenprojekte) müssen gefördert werden.
- Die Klasse als Lerneinheit muss dort eingesetzt werden, wo es um gemeinsame Klärungen geht. Beim Wissenserwerb produziert das Klassensystem häufig unnötigerweise eine Nivellierung. Die Erfahrungen mit der Maturitätsarbeit könnten diesbezüglich wegweisend sein.
- Beurteilung ist nicht wichtiger als Förderung. Es gilt, auch die Stärken der Jugendlichen zu stärken.
Eine Schule, die sich von solchen Kernideen leiten liesse, gäbe ein anderes Versprechen ab. Die allgemeine Hochschulreife wäre nicht von den fachlichen Anforderungen der verschiedenen Studienrichtungen her gedacht, sondern bestünde in der Fähigkeit, den Arbeitsweisen einer Hochschule gerecht zu werden. Dazu gehören grundlegende sprachliche, aber auch mathematisch-naturwissenschaftliche Fertigkeiten. Die Hochschulen dürften mit Maturandinnen und Maturanden rechnen, die über vertieftes Wissen in einigen wenigen Fächern verfügen und ein Verständnis für komplexe Zusammenhänge entwickelt haben.
Damit hätten sie ein «Betriebssystem», mit dem akademischer Unterricht erfolgreich stattfinden könnte.