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Hürdenlauf auf dem Bildungsweg – Hin zu Bildungsgerechtigkeit in einer inklusiven Welt

Anna Graff, Samuel Wenk

Biographisches

Anna Graff: Matur 2016 (Kantonsschule Wiedikon), dann Studium der Biologie und Allgemeinen Sprachwissenschaft in Zürich, Masterstudium in Biologischer Anthropologie in Cambridge (UK), seit 2020 Doktorandin in Linguistik (UZH). Ausseruniversitäres Engagement in Politik und Gesellschaft.

Samuel Wenk: Matur 2016 (Kantonsschule Wiedikon), dann Studium der Rechtswissenschaften in Zürich, seit 2021 Masterstudium in Rechtswissenschaften in Zürich. Teilzeit Velokurier. Ausseruniversitäres Engagement in Politik und Gesellschaft.

Definitionsgemäss sind in einer Meritokratie diejenigen Personen in der gesellschaftlichen Hierarchie «oben», die es aufgrund ihrer Leistung verdient haben. Unsere «Leistungsgesellschaft» sucht ihre Legitimation in der Meritokratie, und die öffentliche Bildung ist eine der Reproduktionswerkstätten, die zur Legitimation des Status Quo beitragen.

Tatsächlich aber sind wir heute noch weit von einer Situation entfernt, in der jede*r alles erreichen kann, sofern er*sie sich nur genug hingibt. So zeichnet sich die Schweiz entgegen der im politischen Diskurs verbreiteten Meinung durch starke soziale Selektivität und tiefe Bildungsmobilität aus: Wenige Informationen über das elterliche Bildungsniveau und über die sozioökonomische Situation eines Kindes genügen demnach, um dessen Bildungsweg mit hoher Wahrscheinlichkeit vorauszusagen (Becker & Schoch, 2018). Auf dem Arbeitsmarkt zieht sich das Phänomen der Selektion anhand systemischer sozialer Faktoren fort: So erlangt beispielsweise zwar ein ansehnlicher und zunehmender Anteil an Frauen hohe Bildungsabschlüsse, sodass Frauen gegen die Hälfte des möglichen Talent-Pools ausmachen, doch Führungspositionen, und damit Macht und Wohlstand, bleiben fest in Männerhand (HSG, Gender Intelligence Report, 2021). Somit ist klar: Neben Fleiss und Kompetenz tragen Privilegien in der Schweiz des 21. Jahrhunderts nach wie vor wesentlich zum Bildungs- und Berufserfolg eines Individuums bei, sodass es ungerechtfertigt ist, in der Schweiz von einem meritokratischen System zu sprechen.

Die Politik und die Bildungsinstitutionen dürfen die ungleichen Startbedingungen ins Bildungs- und Erwerbsleben nicht leugnen und müssen entsprechend auf Chancengerechtigkeit hinarbeiten. Zentral ist hierbei die gesellschaftlich vorherrschende Gerechtigkeitsvorstellung. Aufbauend auf Rawls’ (1971) Gerechtigkeitsvorstellung, dass Gerechtigkeit durch Schaffung gleicher Lebensaussichten für alle Menschen verwirklicht wird, ergibt sich für Bildungseinrichtungen folgendes: Aufgabe von Bildungseinrichtungen soll es sein, gleichberechtigt Chancen für den Besuch von Bildungsinstitutionen und für die Entwicklung von Kompetenzen zu bieten. Die Möglichkeit aller, ihr Bildungspotenzial zu entfalten, ist dabei stets anzustreben. Daraus lassen sich folgende bildungspolitische Massnahmen ableiten: Auf pädagogischer Ebene muss eine Stärkung der Professionalität und Schaffung differenzsensibler und diskriminierungskritischer Lehrräume stattfinden. Auf struktureller Ebene muss in frühkindliche Bildung investiert werden und es ist darauf hinzuwirken, dass Bildungskosten auf allen Ebenen abgebaut werden. Das Langzeitgymansium muss abgeschafft werden, um die Stratifizierung des Bildungswesens zu reduzieren. Der Zugang zu Mittel- und Hochschulen muss deutlich ausgebaut werden.

Systemgerechtigkeit und somit auch Bildungsgerechtigkeit müssen allerdings in erster Linie  auf politischem Weg geschaffen werden. Schule kann nicht unabhängig vom gesellschaftlichen System gedacht werden. Gerechtigkeitsvorstellungen und damit einhergehende Reformen werden gesellschaftlich verhandelt. Umgreifende Reformen sind auch aus Sicht des Schweizerischen Wissenschaftsrats (SWR) unumgänglich, wobei Bildungsreformen alleine nicht genügen. Mögliche Ansätze wie “Schule ohne Noten” (Nölte & Wampfler, 2021) oder “Losverfahren” (Sandel, 2020) sind bekannt, brauchen aber noch grösseren gesellschaftlichen Rückhalt.  

So wichtig es auch ist, auf Chancengerechtigkeit im Bildungswesen hinzuwirken, um den Selektionsprozess von sozioökonomischen Privilegien zu entkoppeln, so sehr drängt sich die Frage auf, ob bei einer verwirklichten Meritokratie wirklich alle Probleme gelöst wären, oder ob nicht inklusivere Gesellschaftsentwürfe erstrebenswert wären. In seinem im Online-Magazin «Republik» veröffentlichten Essay «Gegen die Meritokratie» fasst Daniel Binswanger (2021) sozialwissenschaftliche und philosophische Perspektiven auf diese Frage zusammen. Letztlich macht eine perfekte Meritokratie die Gesellschaft nämlich nicht unbedingt gerechter: Auch eine Meritokratie sieht eine Hackordnung von Mächtigen über den Rest und somit eine Elite vor. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass die Hierarchie in einer perfekten Meritokratie alleine durch Kompetenz und Tüchtigkeit, nicht aber durch Geburtsprivilegien legitimiert wäre. Somit würde eine alleinige Meritokratisierung der Gesellschaft Eliten nicht grundsätzlich in Frage stellen und weiterhin die Radikalisierung der Verlierer*innen eines hierarchischen Systems und die Erschöpfung und Auslaugung der Bevölkerung in Kauf nehmen oder sogar vorantreiben.

Ein Gesellschaftsideal sollte entsprechend über die Meritokratie hinaus gehen. In der Schweiz wie auch auf der Welt sollten alle, und nicht nur die Erfolgreichen, ein würdiges Leben führen können. Auf nichts weniger als dieses Ziel hin sollten die Politik und das Bildungswesen hinarbeiten.

 

Quellen:

Becker, R. & Schoch, J. (2018) Soziale Selektivität. Empfehlungen des Schweizerischen Wissenschaftsrates SWR. Expertenbericht (Vol. 2018). Schweizerischer Wissenschaftsrat (SWR).

Binswanger, D. (2021) “Gegen die Meritokratie”. Online-Magazin Republik

Rawls, J. (1971). A Theory of Justice. Belknap.

Sandel, M. J. (2020). The tyranny of merit: What's become of the common good?. Penguin UK.

Sander, G., Hartmann, I., Keller, N., Gloor, J., Reynolds, M., & Petropaki, A. (2021). Advance & HSG Gender Intelligence Report 2021. How to Change the Face of Leadership.

Nölte, B. & Wampfler, P.(2021) Eine Schule ohne Noten. HEP-Verlag.