Verlernen
Sandro Zanetti
Sandro Zanetti ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und seit August 2021 zudem Ko-Studiendekan der Philosophischen Fakultät sowie Mitglied in der Leitung von HSGYM.
Im Duden finden man unter dem Eintrag «verlernen» nur eine Bedeutung vermerkt: «(etwas Erlerntes, Gewusstes, Gekonntes) allmählich immer weniger, schließlich gar nicht mehr beherrschen». Der Prozess des Verlernens erscheint hier ganz und gar negativ. Und das Beherrschen positiv. Ähnliches gilt für den Bereich der Didaktik: Niemand scheint jedenfalls zu wollen, dass Erlerntes wieder verlernt, vergessen, obsolet wird. Um welchen Preis jedoch findet ein Beherrschen statt, das nicht zu verlernen bereit ist?
Diese Frage bildet den Hintergrund einer Diskussion, die nun seit einigen Jahrzehnten bereits um einen positiven Begriff des Verlernens geführt wird. Ziel dieser Diskussion ist es, verinnerlichte und unbewusst verfestigte Vorstellungen darüber, was gewusst werden kann oder soll, aufzubrechen. Verlernen heißt dann nicht Vergessen. Sondern Abstandnehmen von der trügerischen Gewissheit, man wisse schon, was und wie man wissen sollte.
Der positive Begriff des Verlernens wurde zunächst im Bereich der Postcolonial Studies entwickelt. Danach kam es zu zahlreichen Adaptionen im Bereich etwa der Geschlechterforschung sowie (ausgehend von dem, was in der künstlerischen Praxis längst bekannt war) der Kunsttheorie. Im Kern geht es um die Einsicht, dass das Erlernen von Wissen, aber auch von Vorstellungs- und Verhaltensweisen nicht per se gut ist. Stattdessen rückt die Frage ins Zentrum: Gibt es – mit dem Duden gesprochen – «Erlerntes, Gewusstes, Gekonntes», das man aus guten Gründen lieber verlernen sollte?
Es erstaunt nicht, dass der im Englischen übliche Begriff des Unlearning inzwischen auch in der Unternehmensberatung, in Leadership-Programmen und Managerkursen populär geworden ist. Diese Neuprägungen des Begriffs haben allerdings praktisch gar nichts zu tun mit dem oben erwähnten positiven Verlernen, das man auch als reflexives Verlernen bezeichnen könnte. Letzteres zielt nicht auf ein Vergessen tradierter – sinnvoller oder fragwürdig gewordener – Wissensbestände (einmal abgesehen davon, dass ein angestrengtes Vergessen auch kaum möglich wäre, ohne dass dabei das, was vergessen werden soll, gerade erinnert würde). Reflexives Verlernen dient vielmehr dazu, das Urteilsvermögen über diejenigen Prägungen zu schärfen, die man bewusst oder unbewusst mitlernt, wenn man etwas lernt. Das setzt einen Abstand zum Erlernten voraus.
Reflexives Verlernen setzt an diesem Punkt an. Es ist reflexiv nicht in dem Sinne, dass es nur im Kopf stattfände oder stattfinden sollte. Reflexiv ist es vielmehr, weil es sich ‚zurückbeugt‘ (‚reflektiert‘ im Wortsinn): Reflexives Verlernen beugt sich zurück auf die in der Regel stillschweigend vorausgesetzten Grundannahmen darüber, wie – und ausgehend von wem: von welcher Art Subjekt also – etwas zu denken, zu lernen und zu tun sein sollte. Dazu gehören Vorstellungen von Machbarkeit und Macht, Geschlechterbilder, kulturelle und historische Vorprägungen, Privilegien der Bildung und Herkunft und vieles mehr. Dabei scheut reflexives Verlernen auch vor der Frage nicht zurück, was das jeweils bewusst oder unbewusst Erlernte mit unserer Auffassung von Wissen, mit unseren Verhaltensweisen, ja selbst – wenn man von einem verkörperten Wissen (embodied knowledge) ausgeht – mit unseren Körpern anstellt.
Kann man ein solches Verlernen in der Schule einüben – also lernen? Ja, das kann man. Ich spreche hier nicht nur aus meiner eigenen Schulerfahrung sowie als Elternteil schulpflichtiger Kinder, sondern vor allem als Lehrperson an einer Universität. Da stelle ich fest: Es gibt Studierende, die ein positives Verständnis des Verlernens von der Schule her oder aus eigenem Antrieb mitbringen, und solche, bei denen das weniger der Fall ist. Und obschon ich der Überzeugung bin, dass das Verlernenkönnen eine Grundvoraussetzung für jegliche Art sinnvollen Lernens ist, im Prinzip in jedem Fachgebiet, fällt mir dieser Zusammenhang in meinem Fachgebiet, der Literaturwissenschaft, doch besonders auf.
Natürlich ist es wünschenswert, wenn Schülerinnen und Schüler ein Grundwissen an literaturgeschichtlichen Zusammenhängen, an textanalytischer Methodik sowie eine breite Kenntnis von Texten mitbringen. Darüber hinaus würde ich gerne eine möglichst große Sicherheit in Grammatik, Orthografie und Stilistik voraussetzen. Noch wichtiger als dies ist mir jedoch die Bereitschaft und die Fähigkeit, mit den gelesenen Texten etwas anfangen zu können, sich auf sie einlassen und sie zugleich reflektieren zu können, und zwar so, dass man auch die eigenen Grundannahmen über sie nicht als sakrosankt begreift. Womit wir wieder beim Verlernen wären. Literarische Texte sind tatsächlich ein hervorragendes Übungsfeld für eine Praxis des Verlernens.
Die Einsicht, dass literarische Texte ein neues Sehen, eine Verfremdung (‚Deautomatisierung‘) der Wahrnehmung – eine Störung also und damit auch eine Kritik eingeübter Wahrnehmungsmuster und Welterklärungsmodelle – und demnach auch ein reflektiertes Verlernen ermöglichen und motivieren können, ist in der Literaturtheorie schon über hundert Jahre alt. Schön wäre es, wenn diese Erkenntnis Schule machen würde. Wenn ich richtig sehe, erweisen sich die von Martin Zimmermann in seinem Beitrag («Das Versprechen der Gymnasien) formulierten «Leitlinien für eine andere Schule» damit als kompatibel.
Es stellt sich abschließend die Frage, ob die Bekanntmachung einer reflektierten Praxis des Verlernens an Gymnasien dazu führen sollte, dass nun – wie an der HSGYM-Herbsttagung 2021 unter dem Eindruck der COVID-19-Pandemie gefragt wurde – «alles anders» gemacht werden sollte? Hoffentlich nicht «alles», wäre meine spontane Antwort. Aber einiges vielleicht schon: Ich wäre jedenfalls mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler, die an der Universität ein Studium beginnen, froh, wenn diese von Anfang an wissen, dass ein weiterführendes Lernen nur möglich ist, wenn man – im Sinne eines reflektierten Verlernens – zugleich bereit ist, die eigenen Annahmen darüber, was Wissen heute und morgen heißen soll, revisionsoffen zu halten.