Das Projekt ETH Talent
Das Gymnasium auf dem Weg vom «Talent» kann beides bezeichnen: einen begabten Menschen und eine besondere Kompetenz eines Menschen. Beim Projekt ETH Talent geht es um das Letztere, um Kompetenzen, genauer um die gezielte Förderung von Kompetenzen.
Sarah Springman
Prof. Dr. Sarah Springman war bis Januar 2022 ordentliche Professorin für Geotechnik und Rektorin der ETH Zürich
«Talent» kann beides bezeichnen: einen begabten Menschen und eine besondere Kompetenz eines Menschen. Beim Projekt ETH Talent geht es um das Letztere, um Kompetenzen, genauer um die gezielte Förderung von Kompetenzen.
Die Ausbildung der ETH Zürich ist bekannt für die Vermittlung von fachlichen und methodischen Kompetenzen. Im ersten Bachelor-Jahr, das mit der Basisprüfung abgeschlossen wird, geht es vor allem um die Aneignung von Fach- und Methodenwissen. Auch in den weiteren Semestern konzentrieren sich die Studierenden darauf. Kein Wunder, dass sie sich am Ende ihres Studiums selber so sehen, nämlich als angehende Berufsleute, die eine solide fachliche und fachmethodische Ausbildung genossen haben. Dies war das Ergebnis einer Studie von LinkedIn-Profilen von ETH-Absolventinnen und Absolventen. Diese Selbstsicht korreliert aber kaum mit den Profilen, welche die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber suchen. Für diese haben die sozialen und persönlichen Kompetenzen einen höheren Stellenwert als die fachlichen und methodischen Kompetenzen. Dies weist auf einen Mismatch hin.
Macht die ETH aus den breit gebildeten Maturandinnen und Maturanden «Nerds»? Wohl kaum, weil die allermeisten Absolventinnen und Absolventen der ETH Zürich nach wenigen Monaten nach Studienabschluss eine zu ihrer Ausbildung passende Anstellung finden.
Eine Analyse der Curricula hat ein ausgewogeneres Verhältnis der Kompetenzen ergeben, die in den verschiedenen Studiengängen vermittelt werden.
Aus diesen Beobachtungen lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen: Einerseits ist es den Studierenden zu wenig bewusst, welche Kompetenzen sie sich in ihren Studien angeeignet haben. Und andererseits kann sich die ETH Zürich in der Vermittlung von persönlichen und sozialen Kompetenzen noch verbessern.
Die heutigen Studierenden werden im Jahr 2050 noch aktiv im Berufsleben stehen. Die Welt wird dann sehr viel anders aussehen. So ist davon auszugehen, dass die heute Studierenden sich im Laufe ihres Lebens mehr als einmal beruflich neu orientieren müssen. Ja, sie werden sich immer wieder «neu erfinden» müssen. Sich «neu zu erfinden» ist nicht trivial. Dafür muss man sich selbst kennen, seine eigenen Stärken und Grenzen kennen. Um sich auf neue Rahmenbedingungen einzustellen, muss man gut informiert und gut vernetzt sein. Und man muss Ideen entwickeln können. Dabei sind überfachliche Kompetenzen von entscheidender Bedeutung.
Das Projekt «ETH Talent» setzt genau hier an. Es baut hinsichtlich seiner Umsetzung auf drei Leitprinzipien auf:
- Das Bewusstsein wecken für die Vorteile, welche die Förderung ganzheitlicher Kompetenzen mit sich bringt. Mit der Initiative «ETH Talent» wurde gemeinsam mit den verschiedenen Departementen eine gemeinsame Sprache entwickelt, um überfachliche Kompetenzen zu benennen. Man konnte sich auf einen übersichtlichen Kompetenz-Raster einigen. Dieser enthält soziale Kompetenzen, wie z.B. Kooperation und Teamarbeit, aber auch persönliche Kompetenzen, wie z.B. kreatives und kritisches Denken. Der Kompetenzraster bietet den Verantwortlichen für die Studiengänge die Möglichkeit, Lücken in ihrem Curriculum zu entdecken und sie zu schliessen.
- Studierende befähigen, die Entwicklung ihrer Kompetenzen aktiv zu beeinflussen. Der Kompetenzraster bietet den Studierenden die Möglichkeit, im Vorlesungsverzeichnis gezielt nach Lehrveranstaltungen zu suchen, mit denen sie allfällige Lücken in ihrem persönlichen Profil füllen können. Mit dem neu entwickelten Instrument «myPath» können Studierende auch nach Angeboten ausserhalb der Curricula suchen, wie zum Beispiel die ETH-Woche, die während der Sommersemesterferien stattfindet, oder das Student Project House. An den Standorten Hönggerberg und ETH Zentrum des Student Project House sollen so viele Studierende wie möglich ihr Wissen anwenden und eigene Interessen mit den technischen Möglichkeiten der Werkstätten verfolgen. Die ETH-Woche und das Student Project House sind nur zwei extracurriculare Angebote für Studierende, um ihr Kompetenzprofil zu festigen.
- Feedback-Systeme zum Erlernen und Lehren von Kompetenzen einführen, sowohl für Studierende als auch für die Dozierenden. Zu diesem System gehören Instrumente wie Kursevaluationen und Alumni-Umfragen.
Rektorin Sarah Springman hat ETH-Talent als strategisches Projekt lanciert, um Bewusstsein zu schaffen und eine ganzheitlicher ausgerichtete Kompetenzvermittlung zu fördern. Seit dem 1. Februar 2022 wird das Projekt unter der Leitung ihres Nachfolgers, Rektor Günther Dissertori, fortgesetzt.